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Aussprache-Alltag in Deutschland

Sind Akzente gnadenlos?

Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ gehört zu den wichtigsten Medien in Deutschland und setzt Maßstäbe mit seinen journalistischen Standards. Was im „Spiegel“ steht, verdient meist, wahrgenommen zu werden. In seiner aktuellen Ausgabe steht ein Artikel, der für Deutschlerner spannend sein dürfte.

Aussprache-Trainer Boris Retzlaff hält den Spiegel, Ausgabe 22/2023, in der Hand.

Verschiedene Studien zum Einfluss des Akzents

Unter dem Titel „Die Macht des Akzents“ referiert Alexander Neumann-Delbarre verschiedene Studien und Veröffentlichungen, vor allem aus dem Bereich der Psychologie. Sie alle weisen in die gleiche Richtung, die zugleich die Grundthese des Artikels ist: Ein fremdländischer Akzent kann eine Ursache für Diskriminierung sein.

Neumann-Delbarres Kronzeugin ist die amerikanische Psychologin Katherine D. Kinzler und ihr Konzept der „Speech Discrimination“. Auch sonst finden vor allem Studien aus den USA und Kanada Eingang in seine Argumentation.

Sicher kann man deren Ergebnisse nicht eins zu eins auf Europa oder Deutschland übertragen. Dazu sind die Gesellschaften zu unterschiedlich strukturiert und die Kulturen, die die Menschen prägen, zu verschieden. Anders ausgedrückt: Sowohl die Sensibilität gegenüber Diskriminierung als auch die Art und das Ausmaß von Diskriminierung sind in Nordamerika anders als hier.

Akzent als Kriterium des ersten Eindrucks

Doch bei allen Vorbehalten weisen die Ergebnisse auf eine grundsätzliche Eigenschaft von uns Menschen. Wenn wir jemandem begegnen, versuchen wir unbewusst schnell zu erfassen, mit wem wir es zu tun haben. In Sekundenbruchteilen kategorisieren wir ihn nach Eigenschaften, die wir einfach an ihm wahrnehmen: Aussehen, Alter, Geschlecht, Kleidungsstil zum Beispiel.

An all diesen Kriterien machen sich eine Reihe von Stereotypen fest, positive wie negative. Wie wir einen Menschen einschätzen, ob wir ihn sympathisch oder Vertrauen erweckend finden, entscheidet sich oft schon beim Hallo. Natürlich können wir bei längerer Bekanntschaft zu ganz anderen Einschätzungen kommen, aber das geschieht nicht immer: Der erste Eindruck ist hartnäckig. Überall auf der Welt.

Zu den Kriterien, nach denen wir einen Menschen bei der ersten Begegnung beurteilen, gehört zweifellos auch seine Art zu sprechen. Eine auffällige Abweichung von der Aussprache-Norm, ein starker Akzent ist ein solches Merkmal, das bestimmte Stereotype abrufen kann.

Unsympathische Akzente

Neumann-Delbarre zitiert auch drei Studien aus Deutschland, die seine These bestätigen; zu zweien davon fand ich nähere Informationen. Als nicht ganz korrekt zeigt sich dabei seine Darstellung einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2009 (Eichinger et al.):

„Die Teilnehmer wurden […] gefragt, ob es einen ausländischen Akzent gebe, den sie ‘besonders unsympathisch’ fänden. Am häufigsten nannten sie den russischen, gefolgt vom türkischen und vom polnischen.“

Tatsächlich gab die überwiegende Mehrheit der Befragten – nämlich 48 Prozent – an, keinen ausländischen Akzent besonders unsympathisch zu finden.

Das bedeutet zwar im Umkehrschluss, dass es über 50 Prozent gibt, die auf diese Frage einen bestimmten Akzent nannten. Kein schöner Befund.

Aber es ist nicht so, wie der Artikel suggeriert, dass einzelne Akzente in großen Teilen der Bevölkerung einen besonders schlechten Ruf hätten. Der russische Akzent auf Platz 2 wurde von 14 Prozent der Befragten genannt. Auch das bedeutet zwar, dass sieben von 50 Deutschen negative Assoziationen haben, wenn sie einen russischen Akzent hören. Das sind nicht wenige. Aber 43 von 50 Deutschen haben diese Assoziationen nicht.

Sicher wäre es interessant, eine solche Erhebung heute zu wiederholen. In der Zwischenzeit hat sich die Zusammensetzung der zugewanderten Bevölkerung in Deutschland gewandelt. Zugleich könnten sich bestimmte Stereotype in 14 Jahren des Zusammenlebens geändert haben. Es ist zu vermuten, dass die Ergebnisse zumindest in Teilen anders aussehen könnten.

Akzent als Hindernis bei der Wohnungssuche

Bemerkenswert finde ich die Ergebnisse einer ebenfalls zitierten Untersuchung aus Bremen (Du Bois 2019, kurze Zusammenfassung hier). Hier meldeten sich Studentinnen auf Wohnungsanzeigen und stellten sich – mal mit und mal ohne entsprechenden Akzent – am Telefon als Lena Meyer, Ayse Gülbeyaz oder Alice McGraw vor.

Allgemein erhielten die standarddeutsch sprechenden Anruferinnen mehr Einladungen zur Wohnungsbesichtigung als die mit Akzent. Auf dem Wohnungsmarkt gibt es nach den Studienergebnissen also tatsächlich eine Diskriminierung aufgrund von Aussprache. Es erscheint plausibel, dass dies auch für andere Lebensbereiche gelten könnte, beispielsweise bei der Stellensuche.

Allerdings zeigt die Bremer Studie auch, dass der Akzent nicht der einzige Faktor ist. „Alice McGraw“ wurde mit amerikanischem Akzent häufiger zur Wohnungsbesichtigung eingeladen als die akzentfrei sprechende „Ayse Gülbeyaz“. Die schlechtesten Chancen hatte die türkische Akzentsprecherin.

Ein weiteres interessantes Detail: Die Ergebnisse unterschieden sich je nach Stadtteil erheblich. In einer „prestigeträchtigen“ Umgebung war die Differenz zwischen „Lena Meyer“ und der mit Akzent sprechenden „Ayse Gülbeyaz“ besonders groß, in einem sozial benachteiligten Viertel hingegen nur „marginal signifikant“.

Das deckt sich mit meiner persönlichen Wahrnehmung. In vielen Lebensbereichen in Deutschland ist ein Akzent kein Problem. Im Alltag und bei unpersönlichen Begegnungen spielt er praktisch keine Rolle, er wird als normal akzeptiert. Doch je höher die soziale Schicht, je – buchstäblich – exklusiver das Milieu, desto eher kann ein Akzent die Chancen auf Anschluss verringern.

Wie die Aussprache ein Leben bestimmen kann

Dass ein Akzent soziale Folgen haben kann, unterstreicht der Autor am Beispiel seiner eigenen Familie. 1980 als Russlanddeutsche aus Tadschikistan eingewandert, lernte Neumann-Delbarre schnell, „so Deutsch zu sprechen wie die anderen Kinder um mich herum.“

Seine Eltern sprechen hingegen bis heute mit Akzent. Deren Aussagen im Artikel sind bedrückend. Natürlich liest man hier eine persönliche Geschichte, man liest von Erfahrungen, die andere vielleicht nicht in dieser Form gemacht haben, und man liest subjektive Einschätzungen. Auch wäre es denkbar, dass nicht bei jeder Anekdote der Akzent der eine entscheidende Faktor war, als den Neumann-Delbarre ihn darstellt – so soll es Behördenmitarbeiter geben, die am Telefon ganz allgemein herablassend oder wenig hilfsbereit sind, ob der Anrufer nun einen Akzent hat oder nicht.

Trotzdem liest man hier die Geschichte einer sozialen Ausgrenzung, die seit 43 Jahren anhält. Von Nachbarn, die nicht grüßen. Von Bekannten, für die die russlanddeutsche Familie entweder „die Russen“ oder „die Kasachen“ waren, für Russlanddeutsche nahezu beleidigende Zuschreibungen. Und man liest von der immer wieder von Fremden gestellten Frage, was für Landsleute sie seien.

Der persönliche Teil von Neumann-Delbarres Geschichte hinterlässt ein beklemmendes Gefühl.

Ob sie sich heute und vierzig Jahre in die Zukunft gedacht in der Form wiederholen könnte, ist eine andere Frage. 1980 war die deutsche Gesellschaft weit davon entfernt, sich wie heute als ein Einwanderungsland zu begreifen. Seitdem hat sich nicht nur eine Willkommenskultur herausgebildet, die es heutigen Immigranten viel einfacher macht, im Land Anschluss zu finden. Vor allem wurde Infrastruktur geschaffen, um beim entscheidenden Faktor Sprache zu helfen: Integrationskurse gab es damals einfach nicht, Sprachschulen mit qualifiziertem Deutschunterricht waren im Inland kaum zu finden. Heute sind sie flächendeckend verfügbar und verbessern die Startchancen deutlich.

Die deutsche Aussprache bestimmt, wie man ankommt

Was können wir also aus dem Beitrag im Spiegel und den zitierten Studien lernen?

  • Wie jemand spricht, wird – zumindest unbewusst – von seinem Gegenüber beurteilt. Ein Akzent kann Stereotype abrufen, nach denen man unter Umständen negativ beurteilt wird.
  • Deshalb kann eine Aussprache, die von der standarddeutschen Norm abweicht, in bestimmten Lebensbereichen negative Konsequenzen haben, beispielsweise bei der Suche nach einer Wohnung oder einer guten Arbeitsstelle.
  • Während in vielen Lebensbereichen ein Akzent egal ist, kann er ein Hindernis beim Versuch sein, in höheren sozialen Schichten Anschluss zu finden.
  • Gerade in Bezug auf die Aussprache zeigt sich: In Deutschland ist die Sprache der entscheidende Faktor, um in der Gesellschaft gut anzukommen.
  • Umgekehrt bedeutet das: Eine Aussprache mit Akzent kann dazu führen, dass man unter Umständen jahrzehntelang nicht richtig im Land ankommt.

In seiner zentralen These stimme ich Neumann-Delbarre zu: Ja, es gibt Diskriminierung aufgrund von Akzent. Die Frage ist, was man aus dieser Erkenntnis macht.

Man kann und sollte es thematisieren, wie es „Der Spiegel“ tut. Vielleicht bringt das Einzelne dazu, darüber nachzudenken, ob sie selbst andere aufgrund ihres Akzents in eine Schublade stecken. Vielleicht trägt es so auch dazu bei, in der Gesellschaft positive Veränderungen anzustoßen.

Aber sich hinzusetzen und auf diese Veränderungen zu warten, bringt einen nicht weiter. Was kann man also persönlich tun, um heute dem Risiko einer Diskriminierung aufgrund seines Akzents zu begegnen?

Zuletzt die gute Nachricht…

In einem Punkt muss ich Alexander Neumann-Delbarre widersprechen. Er schreibt:

„Akzente sind gnadenlos. Wer eine Sprache nicht früh genug von Muttersprachlern lernt, wird sie mit Akzent sprechen.“

Das steht im Gegensatz zu meinen Erfahrungen als Aussprache-Lehrer. Es gelingt zwar nicht immer und nicht jedem, zu einer absolut akzentfreien standarddeutschen Aussprache zu kommen. Doch mit der richtigen Anleitung und Kontrolle, passenden Übungen und der nötigen Motivation beim Lernen ist es mindestens möglich, seinen Akzent deutlich zu reduzieren.

Und sich damit die Aufnahme in Deutschland deutlich zu erleichtern.

Literatur

  • Du Bois, I. (2019): Linguistic discrimination across neighbourhoods. Turkish, US-American and German names and accents in urban apartment search. Journal of Language and Discrimination, Vol. 3 No. 2. Sheffield: Equinox.
  • Eichinger, L. M. et al. (2009): Aktuelle Spracheinstellungen in Deutschland. Erste Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativumfrage. Mannheim: Institut für deutsche Sprache u. Universität Mannheim.
  • Neumann-Delbarre, A. (2023): Die Macht des Akzents. Hamburg: Der Spiegel 22/2023.